Montag, 7:56 Uhr. Mein Arbeitstag als Jobcoach beginnt.

Guten Morgen!“, lautet meine Begrüßung, als ich das Büro meines ersten Klienten des heutigen Tages betrete.

„Du bist zu früh!“, erhalte ich als Reaktion auf mein Eintreten.

„Ich weiß. Die Straßenbahn war heute schneller. Ich spreche erst in vier Minuten mit dir.“, folgt von mir als Erklärung.

Es war vereinbart, dass ich von 8:00 bis 10:00 Uhr anwesend sein werde um bei der Strukturierung und Organisation von Arbeitsaufgaben, bei der Pausengestaltung sowie beim Beziehungsaufbau mit Kollegen zu helfen. 7:56 Uhr ist aber nun mal nicht 8:00 Uhr…

…vier Minuten später: „So jetzt ist es 8:00 Uhr. Guten Morgen! Können wir beginnen.?“, fragt mein Klient.

Als Mitarbeiterin des Jobcoaching-Projektes der Österreichischen Autistenhilfe begleite und unterstütze ich Jugendliche und junge Erwachsene direkt am Ausbildungsplatz oder in der Berufsschule. Ich bin vor Ort, wenn der Verwaltungsfachassistent Akten schlichtet, der IT-Informatiker Wartungsarbeiten im Serverraum durchführt oder der Metallbearbeiter das Schweißen erlernt. Eine Autismus-Diagnose ist kein Grund nicht in einem dieser Berufe oder in jedem anderen denkbaren Berufsfeld tätig zu sein.

Die Autismus-Spektrum-Störung wird von der Weltgesundheitsorganisation als tiefgreifende Entwicklungsstörung klassifiziert. Autismus besteht von der Geburt an und wirkt sich auf die Entwicklung bestimmter Gehirnstrukturen aus. Daraus resultiert eine andere Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt. Diese anderen Verarbeitungsmechanismen zeigen sich vor allem in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie auf der Verhaltensebene in der Bevorzugung von stereotypen und ritualisierten Handlungen. Nicht jede Person mit einer Autismus-Spektrum-Störung ist wie „Rainman“ aus dem Film mit Dustin Hoffman. Nur einige wenige verfügen über herausragende Fähigkeiten (sogenannte Inselbegabungen) beispielsweise in Mathematik, Physik, Musik oder Sprachen.

Die größten Herausforderungen zeigen sich für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung im sozialen Miteinander sowie dem Erkennen von Gestik, Mimik und Emotionen bei anderen. Während neurotypische Menschen (jene ohne Autismus-Diagnose) die Regeln der sozialen Interaktion und das Erkennen von Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen nebenbei erlernen und im Laufe ihrer Entwicklung intuitiv erkennen, gestaltet sich das bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ähnlich dem Erlernen einer Fremdsprache. – Wie lange hält man den Blickkontakt während eines Gespräches? Warum soll man ein Gespräch über das Wetter beginnen, wenn es doch für jeden offensichtlich erkennbar ist, dass es regnet? Wieso ist es unhöflich der Arbeitskollegin die ehrliche Meinung darüber zu sagen, dass einem ihr neues Kleid nicht gefällt? – Bedingt durch diese Besonderheiten im sozialen und emotionalen Umgang ergeben sich im Berufsalltag viele Stolpersteine, Missverständnisse und eventuell auch Kränkungen auf Seite von ArbeitskollegInnen oder Vorgesetzten.

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen nehmen die Umwelt oftmals als chaotisch, unstrukturiert und unvorhersehbar wahr. Sie bevorzugen deshalb fixe Abläufe und Strukturen, die für andere nicht immer Sinn ergeben, aber dabei helfen die Umwelt für sie durchschaubarer zu gestalten. Es ist daher mitunter auch schwierig für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, sich flexibel an neue Situationen, Menschen und Abläufe anzupassen, was im Berufsalltag aber nicht immer vermieden werden kann. Der Einsatz bestimmter ritualisierter Verhaltensweisen, Handlungen oder die intensive Auseinandersetzung mit speziellen Themengebieten (sogenannten Spezialinteressen) kann bei der Stressreduktion und Entspannung helfen.

Die großen Stärken und Vorzüge bei der Beschäftigung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung zeigen sich in ihrer analytisch-logischen Art zu denken, ihrer Detailgenauigkeit, ihrer Ehrlichkeit, ihrer Fähigkeit sich intensiv und exklusiv über einen längeren Zeitraum mit einem Themengebiet auseinanderzusetzen um dabei einen enormen Wissensschatz aufzubauen sowie in ihrer Vorliebe für Ordnung und Struktur. Diese besonderen Fähigkeiten können eine große Bereicherung für jedes Unternehmen darstellen, das sich nicht davor scheut Personen mit anderen Sicht-, Verhaltens- und Herangehensweisen einzustellen.

Meine Rolle als Jobcoach lässt sich somit am besten als die einer Vermittlungsperson oder einer Dolmetscherin erklären – ich vermittle und übersetze verschiedenartige Wahrnehmungen der Umwelt. Ich versuche auf beiden Seiten ein besseres Verständnis für die jeweils „andere Welt“ zu schaffen ohne dabei die „Einzigartigkeit der Andersartigkeit“ zu vergessen.

Über die Autorin:

Mag.a Hélen Müllner ist Klinische Psychologin und als Mitarbeiterin des fachlichen Jobcoaching-Projekts der Österreichischen Autistenhilfe tätig. Dabei handelt es sich um eine von Sozialministerium Service Wien geförderte Maßnahme, um die berufliche Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Arbeitsmarkt zu unterstützen. Mag.a Hélen Müllner verfügt über mehrjährige Erfahrung in der direkten Begleitung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung in der Schule, Freizeit und am Arbeitsplatz. Sie ist des Weiteren als Klinische Psychologin in freier Praxis tätig und arbeitet hier schwerpunktmäßig in der Diagnostik, Beratung und Behandlung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sowie deren Angehörigen.

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