Mehr und mehr Organisationen haben im Laufe der letzten Jahre erkannt, dass das Gros der MitarbeiterInnen durch Arbeit nicht einfach nur den Lebensunterhalt sichern möchte – es geht ihnen auch um ihr „psychologische Einkommen“. So könnte man die Summe all jener immateriellen Aspekte bezeichnen, die Menschen ebenfalls aus ihrer Arbeit ziehen können, z.B. das Gefühl von Selbstwirksamkeit, die Verbundenheit mit anderen Menschen – oder auch das Sinnerleben, welches sich unter Einsatz der eigenen Schaffenskraft verspüren lässt.

Gerade das Sinnerleben der MitarbeiterInnen erfährt in letzter Zeit verstärkt große Aufmerksamkeit, sogar hinauf bis in die höchsten Management-Etagen. Gleichzeitig fällt (mir) auf, dass dieses – an sich wertvolle – Thema, zumeist auf eine unterkomplexe Art und Weise behandelt wird. Häufig wird es auf den Aspekt des Purpose reduziert, frei nach dem Motto: „Wenn wir nur allen glasklar machen können, wozu es unsere Organisation gibt, dann stellt sich das Sinnerleben schon von alleine ein.“ Tatsächlich ist es so, dass ein klarer und authentischer Purpose auf das Sinnerleben der MitarbeiterInnen einwirken kann – er ist aber nur ein Faktor unter vielen. Eine gute Annäherung an die Komplexität der Materie bietet die folgende Grafik:

Dieses Modell geht auf die Forscher Brent Rosso, Kathryn Dekas und Amy Wrzesniewski zurück, die es erstmalig 2010 in einem einflussreichen wissenschaftlichen Magazin veröffentlichten. Es entstammt einer Arbeit, die sich zum Ziel setzte, die Forschung der vergangenen Jahrzehnte zu arbeitsbezogener Sinnwahrnehmung zu systematisieren. Somit integriert es die Erkenntnisse hunderter früherer Studien. Die Essenz ihrer Arbeit bildet die oben gezeigte Grafik: Auf der vertikalen Achse wird unterschieden, ob ein Sinntreiber die Ebene des Individuums allein betrifft oder ob es um den Menschen als Teil einer Gruppe geht. Man kann auch sagen, dass es um die Unterscheidung zwischen Tun und Sein geht. Die horizontale Achse steht für die Frage, ob der Faktor in seinen Auswirkungen auf die handelnde Person selbst (links) oder auf andere Menschen gerichtet ist (rechts). Ich werde nun den Inhalt der vier Quadranten überblicksartig beschreiben.

Oben rechts: der Greenpeace-Quadrant

Im oberen rechten Quadranten geht es um die Wirkung, die ein Mensch durch seine Arbeit für andere erzielt. Die Profiteure der eigenen Leistung können innerhalb der eigenen Organisation beheimatet sein, doch zuvorderst denken Menschen hier an externe Akteure: Kunden oder, weiter gefasst, alle Personengruppen, die aus den Leistungen der Organisation Nutzen ziehen. Je »edler« die Motive einer Organisation, desto stärker ist die Sinnwahrnehmung in der Regel. Somit wird auch deutlich, dass dieser Faktor spürbar vom Zweck der Organisation beeinflusst wird. Organisationen aus dem Sozial- oder Gesundheitssektor bzw. Non-Profit-Organisationen haben hier einen Vorteil gegenüber gewinnorientierten Unternehmen. Je nachdem, wie deutlich die Auswirkungen des persönlichen Einsatzes erlebbar werden, kann auch die Sinnwahrnehmung zwischen verschiedenen Mitarbeitern ein und derselben Organisation stark schwanken. Ein Controller beispielsweise, der genau versteht, dass 80 Prozent seiner Reports ungelesen in den Papierkorb wandern, hat kein leichtes Spiel im Bereich dieses Quadranten.

Unten rechts: der Wohlfühl-Quadrant

Der untere rechte Quadrant integriert Faktoren, die mit Zugehörigkeit zu tun haben. Hier geht es einerseits um die persönliche Bindung unter den Menschen, die miteinander arbeiten. Je mehr man seine (oder wenigstens einige) Kollegen mag, desto ausgeprägter ist die Sinnwahrnehmung. Auf einer übergeordneten Ebene bildet dieser Quadrant zudem Faktoren ab, die in den Bereich der organisationalen Identifikation fallen. Je stärker ein Mensch eine Übereinstimmung zwischen den persönlichen Motiven und Wertvorstellungen und jenen der Organisation erlebt, desto ausgeprägter wird sich die Sinnwahrnehmung zeigen. Andauernde Wertekonflikte andererseits sind ein ziemlich treffsicherer »Sinnkiller«.

Unten links: der Me-Myself-and-I-Quadrant

Beim linken unteren Quadranten geht es um die Beziehung des Arbeitenden zu sich selbst – besser gesagt: zu den verschiedenen Anteilen des Selbst. Jeder Mensch ist, metaphorisch betrachtet, ein Sammelsurium aus diversen Bausteinen: Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Ziele – verschiedenste Motive, die mitunter auch im Widerstreit stehen können. Dazu gehört, dass wir einige Persönlichkeitsbausteine als stärker zu uns gehörig erleben. Wir identifizieren uns mehr mit unseren Stärken als den Schwächen. Ebenso haben wir Präferenzen, von denen wir annehmen, dass sie unserem wahren Selbst näher sind als andere. So nehmen wir vor allem solche Aufgaben als förderlich für unser Sinnerleben wahr, die uns Gelegenheit geben, unsere Stärken einzusetzen, und die zentraleren Teile unseres Selbstkonzepts bedienen.

Links oben: der Freiheits-Quadrant

Der linke obere Quadrant bündelt Faktoren, durch die sich ein Mensch als wirksam und autonom handelnd erlebt. Hier geht es nicht um die Auswirkungen des eigenen Tuns (wie im Quadranten oben rechts), sondern schlicht um Spielräume. Je mehr wir bewegen können, desto mehr Sinnwahrnehmung erleben wir. Je mehr Ressourcen wir zur Verfügung gestellt bekommen, desto besser. Es ist intuitiv ersichtlich, dass Führungskräfte hier tendenziell im Vorteil sind gegenüber Nicht-Führungskräften.

Die Quadranten im Zusammenspiel

Die Aspekte auf den vier Quadranten können unabhängig voneinander das Sinnerleben von MitarbeiterInnen stärken. Gleichzeitig können sie sich auch gegenseitig blockieren. So ist es sicherlich hilfreich, wenn eine Organisation kontinuierlich daran arbeitet, denen ureigenen Purpose zu schärfen und klar zu kommunizieren – dies würde auf den oberen rechten Quadranten einzahlen. Wenn die direkte Führungskraft eines Teams in der gleichen Organisation jedoch nach dem Muster „Command & Control“ führt und damit die Wirkung des oberen linken Quadranten blockiert, wird das Ergebnis insgesamt wenig zufriedenstellend ausfallen. Organisationen und Führungskräfte, die Wert darauf legen, dass die MitarbeiterInnen ein Höchstmaß an Sinn im Rahmen ihrer Arbeit erfahren (was sich im Übrigen sehr positiv auf Motivation und Engagement auswirkt), werden sich folglich – nach und nach und immer wieder – allen zuvor genannten Quadranten widmen müssen. Ein glaubwürdiger Purpose ist hier ein guter Anfang – aber noch lange nicht das Ende.

 

Über den Autor:

Seit April 2019 ist Nico Rose Hochschullehrer für Wirtschaftspsychologie an der International School of Management (ISM) in Dortmund. Von 2011 bis 2018 arbeitete er im Stab des Personalvorstands der Bertelsmann-Gruppe, Europas führendem Medienkonzern, zuletzt als Vice President für das Employer Branding und die internationalen Recruiting-Programme. Zuvor arbeitete er für die Marketingberatung CC&C Group, die EBS Business School und L‘Oréal Deutschland.